Messies – Ein schönes Chaos: Tüftler, Sammler, Visionäre. Berührende Dok über Leid und Leidenschaft (Trailer und Filmkritik)
Inhalt: Beherrschen sie das Chaos oder beherrscht das Chaos sie? Der Schweizer Dokfilmer Ulrich Grossenbacher hat vier ‚Sammler‘ während drei Jahren mit seiner Kamera begleitet. Dabei wird er Zeuge einer Ehekrise, begleitet einen Bauern, auf dessen ‚Heimetli‘ per richterlichem Dekret die Sammlung landwirtschaftlicher Fahrzeuge entsorgt werden muss, befragt eine Akademikerin, deren Wohnung mit Büchern, Zeitschriften und abertausenden von Tonkassettli verstopft ist, und filmt einen Tüftler, der aus Schrott wundersame Geräte kreiert. Grossenbacher porträtiert unangepasste Menschen, die ihrer eigenen Wert- und Ordnungslogik folgen und sich dadurch in Widerspruch zu den gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen setzen.
Kritik / Fazit: „Diä Schachtle isch bumsplüttervoll“. Die Sequenz in der Thuner Amtsstube ist nicht nur erheiternd-unterhaltend, sie steht auch für den gesellschaftlichen Status aller sogenannten „Messies“: Akten türmen sich hüben und drüben über die sperrigen Mitbürger, deren (Über-) Lebensstrategie es ist, Unmengen von Sperrgut zu horten. So zumindest in den Augen ‚ordentlicher‘, angepasster und somit der ‚Norm entsprechenden‘ Zeitgenossen. Doch was ist ‚normal‘? Wie empfinden sie, die nichts wegwerfen können, diese Ambivalenz zwischen geordneter Aussenwelt und chaotischem Durcheinander in ihren eigenen vier Wänden? Nach Ansicht eines Protagonisten sind alle, auch die Ordnungsliebenden, genauso verloren wie die uferlosen Sammler. Mit sehr viel Gespür und Respekt hat sich Ulrich Grossenbacher („Hippie Masala, für immer in Indien“) an diese im wahrsten Sinne des Wortes aussergewöhnlichen Menschen angenähert. Dabei hat er eine der wichtigsten Regel beherzigt, die so viele Dokfilmer ignorieren: keine ‚inszenierten‘ Szenen. In denen man die Protagonisten wie Statisten arrangiert, ihnen das Thema einer im Drehbuch festgehaltenen ‚Schlüsselszene‘ vorgibt, und im worst case auch noch die Antworten in den Mund legt. So ist Grossenbacher kein gekünstelt-verkrampfter, sondern ein überaus humorvoller und authentischer Dokfilm gelungen. Leider verliert „Messies“ gegen Ende hin etwas an Schwung. Das ist wohl die andere Seite von mehrjährigen Dreharbeiten – auf welche Sequenzen verzichtet man, obwohl viel Herzblut darin liegt? Trotz Überlänge: „Messies“ zeigt uns ein Bild über „Schtürmichaibe“, über ‚etwas‘ andere Menschen, die aber auf ihre (liebenswerte) Weise das Mensch-Sein vermutlich ehrlicher und wahrhaftiger verkörpern als die derzeit von grassierendem Ego- und Konsumtrip befallene Gesellschaft.
Inside: Der Begriff „Messie“ wurde 1981 von der Amerikanerin Sandra Felton geprägt. Die Medizin rätselt noch darüber, ob und wie man diese ‚gesundheitliche Störung‘ behandeln kann. Deren Ursache wird unter anderem in einer ungenügenden Zuwendung in der Kindheit gesehen. Es gilt zu unterscheiden zwischen ‚gewöhnlichen‘ Messies und der Extremvariante, dem „Vermüllungssyndrom“. Diese Menschen haben keinerlei Ordnungssinn mehr und leben völlig zugemüllt im eigenen Unrat. Für Messies gibt es zahlreiche Selbsthilfegruppen. In der Schweiz wurde der Verband ‚LessMess‘ ins Leben gerufen, der die Anliegen der Messies in der Öffentlichkeit vertritt.
Isabella Fischer
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